Im Internetgeschäftsmodell von heute leben Netzbetreiber und Diensteanbieter in einer Symbiose. Während Diensteanbieter die Infrastruktur der Netzbetreiber als Basis für ihre Dienste benötigen, können Netzbetreiber ihre Internetzugänge nur aufgrund der Existenz attraktiver Internetdienste erfolgreich vermarkten. Doch das bisher für alle Parteien gut funktionierende Internetmodell gerät mehr und mehr in eine Schieflage.
Die in der letzten Dekade stark vorangeschrittene Kommerzialisierung des Internets und der rasante technische Fortschritt haben zu einem Paradigmenwechsel in der gesamten Telekommunikationsbranche geführt. Die bisherigen netzzentrierten Dienste werden zunehmend durch für jedermann zugängliche IP-basierte Dienste auf Basis des Internets substituiert.
Waren es bisher hauptsächlich große Carrier, die massentaugliche Dienste zumeist nur mit immensen Investitionen entwickeln und anbieten konnten, so ist dies heute auch kleineren Unternehmen zu einem Bruchteil der Kosten möglich. Diese müssen keine eigene kostenintensive Netzinfrastruktur mehr aufbauen und betreiben, sondern nutzen das öffentliche Internet und den bei immer mehr Nutzern vorhandenen Breitbandanschluss als Basis für ihre Dienste. So können sie die Kosten für den Datentransport externalisieren und ihre Dienste entsprechend kostengünstig produzieren und anbieten.
Diese Faktizitäten haben dazu geführt, dass mittlerweile eine Vielzahl von Unternehmen im Internet professionelle Dienste anbietet, die bisher nur großen Carriern vorbehalten waren. In den vergangenen Jahren überschlugen sich die Erfolgsmeldungen dieser auch als Overthe-top-Anbieter bezeichneten Unternehmen, allen voran Google, Skype, Amazon und eBay. Heute liegt allein die Marktkapitalisierung von Google um mehr als ein Drittel über der von großen europäischen Carriern.
Qualität garantieren, ohne sie beeinflussen zu können?
Die Dienstgüte (Quality of Service, QoS), also die Qualität mit der Datenpakete durch das Internet transportiert werden, wird heute zumindest implizit durch die Carrier beziehungsweise Netzbetreiber bestimmt. Over-the-top-Diensteanbieter haben dagegen kaum Möglichkeiten, die Dienstgüte zu beeinflussen, selbst wenn sie bereit sind, hierfür zu bezahlen. Folglich können sie selbst ihren zahlenden Nutzern die störungsfreie Funktion ihrer Dienste nicht garantieren.
Im Klartext heißt das, dass heute fast alle im Internet verfügbaren Dienste im Vertrauen auf eine hinreichende Dienstgüte angeboten werden. Zusicherungen bezüglich einer bestimmten Dienstgüte können und werden von den Netzbetreibern für Internetverkehre in aller Regel nicht gegeben. Dies gilt insbesondere für netzübergreifende Verkehre. Zwar reicht die heute im Internet verfügbare Dienstgüte für den Großteil aller Dienste aus, ob dies auch zukünftig der Fall sein wird, ist jedoch fraglich. Vor allem die beiden folgenden Entwicklungen lassen Gegenteiliges vermuten und verdeutlichen, warum das einstmals ausschließlich für nichtkommerzielle Zwecke geschaffene Internetmodell in seiner heutigen Form nicht auf Dauer Bestand haben wird.
Verkehrsexplosion durch multimediale Dienste
Die stetig zunehmende Breitbandpenetration und die im Vergleich zum Netzinneren – insbesondere durch die VDSL-Technologie – überproportional gestiegene Anschlussbandbreite, gepaart mit neuen Anwendungsszenarien wie zum Beispiel interaktives Fernsehen, führt in absehbarer Zeit zu Engpässen im Internet. Vor allem der Boom bandbreitenhungriger und auf den Massenmarkt abzielender Dienste – genannt seien der Videodienst YouTube oder der auf Peerto-Peer-Technolgie basierende IPTV-Dienst Joost – löst in den kommenden Jahren eine Verkehrsexplosion aus. Die Auswirkungen eines hieraus entstehenden Ressourcenengpasses spüren zunächst Anwender von sehr zeitkritischen und isochronen Diensten wie VoIP und Online Gaming.
„Bill and Keep“ und Peering als Ursache für schlechte Dienstgüte
Neben der Verkehrsexplosion ist noch eine weitere Entwicklung im Internet zu beobachten: Der Ausbau der Übergabepunkte zwischen den verschiedenen Netzbetreibern schreitet nicht in dem Maße voran, wie dies für die immer globaler fließenden Datenverkehre eigentlich erforderlich ist. Der Grund hierfür liegt in dem heute im Internet verwendeten Abrechnungsregime „Bill and Keep“, bei dem zwischen zwei Netzbetreibern keine Weiterverrechnung der vom Nutzer vereinnahmten Entgelte erfolgt. Der Betrieb der Zusammenschaltungspunkte (Peerings) verursacht für Netzbetreiber oft erhebliche Kosten, denen keine oder nur geringfügige direkte Einnahmen gegenüberstehen. Ihr Ausbau wird daher insbesondere von so genannten „Eyeball- Carriern“, also Netzbetreibern mit einer Vielzahl von eigenen Endkunden, nur langsam und reaktiv vorangetrieben. Hier drängen sich bereits heute die Datenpakete dicht an dicht, was insbesondere bei netzübergreifenden Verkehren zu einer spürbar verminderten Dienstgüte führt.
Das historisch gewachsene Internetmodell muss überdacht werden
Die beschriebenen Ursachen – Verkehrsexplosion und Abrechnungsregime – sind nur zwei von vielen, die deutlich machen, dass das historisch gewachsene Internetmodell überdacht werden muss, um den veränderten Anforderungen von heute gerecht zu werden. Dies hat vor allem unter der Maßgabe zu erfolgen, dass einzelne Marktteilnehmer im Vergleich zu anderen nicht benachteiligt werden. Unter der Annahme, dass man die Diskriminierung einzelner Dienste ausschließt, lässt sich mittels Tiered Services eine Win-Win-Strategie entwickeln, von der alle Marktteilnehmer profitieren werden.
Was sind Tiered Services?
Der Begriff „Tiered Services“ (engl. gestufte Dienste) bezeichnet die Abkehr von dem bisher im Internet gebräuchlichen Prinzip der Gleichbehandlung aller Dienste. Behandeln die Netzknoten im Internet heute alle IP-Datenpakete des öffentlichen Internetverkehrs nach bestem Bemühen und mit der gleichen Priorität (Best Effort), so ermöglicht der Einsatz geeigneter QoS-Mechanismen die Differenzierung einzelner Pakete respektive Dienste. Priorisiert man nun gezielt einzelne Dienste, so erhält man abgestufte Dienste beziehungsweise Tiered Services. Die Basis für Tiered Services bilden differenzierte Verkehrsklassen, die hinsichtlich bestimmter Dienstgüteparameter optimiert sind.
Protektionismus ist keine Alternative
Technisch gesehen sind viele der heute im Einsatz befindlichen Netzknoten bereits in der Lage, eine solche Differenzierung und Priorisierung durchzuführen. Es stellt sich jedoch die Frage, wer darüber entscheidet, welche Dienste wie priorisiert werden. Hierzu diskutieren Netzbetreiber, Diensteanbieter und Nutzer im Rahmen der kontrovers geführten Netzneutralitätsdebatte bereits seit mehreren Jahren. Aus Angst, Netzbetreiber könnten ihre Dienste behindern oder gar blockieren, wollen vor allem die Diensteanbieter die gesetzliche Festschreibung des heutigen Status Quo eines undifferenzierten und damit diskriminierungsfreien Internets erreichen. Wie die nachfolgenden Argumente zeigen, ist ein solcher Protektionismus selbst aus Sicht der Netzbetreiber nicht erstrebenswert, ließen sie sich doch eine einmalige Chance entgehen.
Das Ende von „Bill and Keep“?
Die pauschale Abrechnung („Flatrate“) von priorisierten Verkehren führt unweigerlich – analog der heutigen Best Effort-Klasse – zu einem schnellen „Verstopfen“ der neu geschaffenen Verkehrsklassen. Damit dies nicht passiert und das Tiered Services-Modell ad absurdum geführt wird, muss die Abrechnung beziehungsweise Verrechnung sowohl zwischen den Netzbetreibern selbst als auch gegenüber Diensteanbietern zukünftig nutzungsabhängig erfolgen. Eine Abkehr vom bisherigen „Bill and Keep“ ist hier die logische Konsequenz, ein möglicher Lösungsansatz beispielsweise das Abrechnungsregime „Sending Party Pays“. Hier bezahlt der Absender eines Pakets für dessen Übertragung ein gewisses Entgelt an den Empfänger und verpflichtet diesen somit zur Sicherstellung einer entsprechenden Dienstgüte beim Transport der von ihm angelieferten Daten. Voraussetzung für eine nutzungsabhängige Abrechnung ist ein differenziertes Billing und Accounting, welches in der Lage sein muss, die Verkehre jeder Klasse separat zu erfassen und zu bepreisen.
Ineffizienz ist gut, wenn man sie sich leisten kann
Heutzutage wird die Dienstgüte auch ohne QoS-Mechanismen durch eine sehr kostenintensive Überdimensionierung der Netze (Overprovisioning) sichergestellt. Durch den Einsatz geeigneter QoS-Mechanismen lässt sich die Auslastung eines Netzes und damit seine Effizienz jedoch steigern, ohne dabei QoS-sensitive Dienste zu beeinträchtigen. Da nach wie vor ein Großteil aller durch das Internet fließenden Verkehre hinsichtlich seiner QoS-Anforderungen sehr genügsam beziehungsweise elastisch ist, erfahren diese Verkehre in einem stärker ausgelasteten Netz ohnehin für den Nutzer kaum merkliche Beeinträchtigungen. Mit Tiered Services können Netzbetreiber sowohl die Auslastung ihrer vorhandenen Infrastruktur und damit deren Kosteneffizienz erhöhen als auch Investitionen für den Netzausbau in die Zukunft verlagern. Da QoS-Mechanismen in der Regel nur im Engpassfall zum Tragen kommen, ist eine Kombination von Overprovisioning und Tiered Services folglich nicht sinnvoll.
QoS-sensitive Dienste
Personal – Communication
– Internettelefonie (VoIP)
– Videotelefonie / Webcam
– Teleconferencing
Streaming Multimedia
Push-Services (Broadcasting / Netcasting)
– (Interactive) IPTV / WebTV
– Internetradio / Webradio
Pull-Services (On-Demand)
– Video on Demand (VoD)
– Audio on Demand (AoD)
Virtual – Worlds
– Online Gaming
– Virtual – Reality (VR)
eCommerce
– Enterprise Resource Planning (ERP)
– Online Brokerage / Trading
Virtual – Computing
– Network Computing
– Screen / Desktop Sharing
– Application Service Providing (ASP)
Special – Services
– Grid Computing
– Virtual – Private Network (VPN)
– Dedicated Link Emulation
– IP Storage
– Telemedizin / ehealth
– Telemetrie
– Verkehrstelematik
– Gebäudeautomatisierung (Facility Management)
– Sicherheitstelematik / Alarmierung
– …
Während die oben beschriebenen Effekte vor allem auf die Einsparung von Kosten abzielen, lassen sich darüber hinaus mittels Tiered Services neue Geschäftsmodelle entwickeln. Durch das Angebot von qualitätsgesichertem Datentransport und darauf basierenden innovativen Geschäftsmodellen eröffnen sich für Netzbetreiber völlig neue Einnahmequellen. Eine Differenzierung gegenüber Mitbewerbern und dem mittlerweile stark commoditisierten Best Effort-Internet wird durch Tiered Services überhaupt erst möglich, und die Netzbetreiber erhalten die einmalige Chance, das aus ihrer Perspektive immer unlukrativer werdende Internetgeschäftsmodell zu revolutionieren.
Da sich sowohl Diensteanbieter als auch Nutzer im bisherigen Modell in einer recht komfortablen Position befinden, mag dies aus ihrer Sicht zunächst beängstigend wirken. Bei genauerer Betrachtung der Situation stellt sich jedoch heraus, dass auch Diensteanbieter und Endkunden von einem offenen Tiered Services-Ansatz profitieren. Einzige Voraussetzung hierfür ist, dass die verschiedenen Verkehrsklassen beziehungsweise Dienstgüten von den Netzbetreibern transparent am Markt angeboten werden und damit auch von den Diensteanbietern für ihre eigenen Dienste eingekauft und genutzt werden können.
Diensteanbieter können ihren Kunden qualitätsgesicherte Dienste anbieten
Die meisten Internet-Nutzer wünschen sich einfach zu nutzende und kostengünstige Dienste. Dabei haben sie insbesondere bei kostenpflichtigen Diensten hohe Erwartungen hinsichtlich einer einwandfreien Funktion beziehungsweise der von ihnen subjektiv wahrgenommenen Dienstgüte. Diesen Erwartungen können die Diensteanbieter heute schon aus rein technischen Gründen nicht immer entsprechen und verweisen bei mangelhafter Qualität oder Störungen ihrer Dienste häufig lapidar auf die Netzbetreiber. Mit Tiered Services ist es ihnen hingegen möglich, qualitätsgesicherten Transport einzukaufen und so ihren Kunden die einwandfreie Funktion ihres Dienstes zu garantieren.
Die freie Beziehbarkeit von qualitätsgesichertem Verkehr bildet somit die Basis für eine ganz neue Art von Premium- Diensten, mit denen sich zunächst vor allem anspruchsvolle und qualitätsbewusste Kunden adressieren lassen. Aber auch andere Premium-Dienste sind denkbar, für die eine bestimmte Dienstgüte quasi als Hygienefaktor angesehen werden kann. Beispiele hierfür sind kritische Anwendungsfälle wie zum Beispiel Telemedizin, Online Trading sowie Gebäudeüberwachung und Alarmierung.
Während es heute, je nach Zeit und Ziel, bei VoIP-Gesprächen über das Internet reine Glückssache ist, mit welcher Qualität und insbesondere Verzögerung des Sprachsignals ein Gespräch geführt werden kann, sind VoIP-Anbieter wie beispielsweise Skype mit Tiered Services zukünftig in der Lage, einen Premium- Dienst mit garantierter Verbindungsqualität anzubieten. Dies führt dazu, dass mit ISDN gleichwertige oder sogar höherwertige internetbasierte Telefoniedienste entstehen und neue Umsatzpotenziale erschlossen werden können.
Nischenmärkte nicht unterschätzen
Neue lukrative Anwendungsfelder ergeben sich auch für Anbieter aus dem Bereich Online Gaming. Mit Tiered Services lässt sich gegen ein entsprechendes Entgelt eine bevorzugte Behandlung des Datenaustauschs von Online Gamern sicherstellen. Dass hieran bereits heute ein reges Interesse und eine entsprechende Zahlungsbereitschaft in der Gemeinde der Online Gamer besteht, zeigt das Beispiel der zu ADSL-Anschlüssen hinzubuchbaren Fastpath-Option, mit deren Hilfe Spieler ihre Reaktionszeit (Delay) verbessern können.
Ein weiteres Beispiel ist der Abruf von multimedialen Inhalten aus weit entfernten und daher häufig nur mit schlechter Dienstgüte erreichbaren Netzen. Wer bereits einmal versucht hat, exotische WebTV- oder Internet-Radio- Streams aus solch einem Netz abzurufen, kennt das Problem: Die Übertragung stockt oder bricht schließlich ganz ab. Mittels Tiered Services kann der Diensteanbieter respektive der Nutzer gegen ein entsprechendes Entgelt seine virtuelle und exklusive Schnellstraße für die Dauer der Übertragung durch das Internet bauen und die von ihm gewünschten Inhalte störungsfrei abrufen. Vor allem Inhalteanbieter können so ihre Reichweite erheblich vergrößern und neue Zielgruppen ansprechen.
Noch steht ein Hürdenlauf bevor
Das heute häufig pejorativ als „Bitpipe-Business“ bezeichnete reine Datentransportgeschäft der Carrier kann durch Tiered Services zukünftig eine Renaissance erleben und wieder an Attraktivität gewinnen. Diensteanbieter werden endlich in die Lage versetzt, qualitätsgesicherte Dienste anzubieten und Nutzer profitieren von innovativen Angeboten und einem verstärkten Wettbewerb. Die hier beschriebenen Anwendungsfälle stellen lediglich eine kleine Auswahl von möglichen Szenarien dar. Es bleibt spannend, ob und wie sich Tiered Services etablieren werden.